Dienstag, 26 November
»Death to all states, but free palestine«? Zum Verhältnis von Antisemitismus, Antizionismus und materialistischer Staatskritik
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Vortrag von Luise Henckel:
Nach dem Massaker der islamistischen Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 zeigte sich in der globalen Reaktion auf die Ereignisse schnell, dass der Angriff auf den jüdischen Staat eine neue Welle antisemitischer Enthemmung nach sich ziehen würde. Insbesondere auch im „progressiven“ Milieu folgte eine – zwar nicht neue, aber in ihrer Militanz doch erschreckende – antizionistische Mobilisierung. Die Delegitimierung Israels als „unechte“, „falsche“, „koloniale“, „imperiale“ eben „zionistische Entität“ wurde dabei von einer neu politisierten Generation von Aktivist:innen vorgetragen, denen der Begriff des Zionismus wenige Wochen vorher vermutlich noch nichts gesagt hatte. Dabei geht es allerdings nicht, wie man vielleicht meinen möchte, um eine allgemeine Skepsis oder Feindschaft gegenüber – auch militärisch bedingter – Staatlichkeit.
Der Einsatz für die palästinensische, explizit nationale Befreiung, einer vermeintlichen „Dekolonialisierung mit allen nötigen Mitteln“ sowie die politische Verteidigung der Regime autoritär geführter Nationalstaaten wie Iran oder Syrien von Seite der Aktivist:innen zeugen vielmehr davon, dass es sich bei dem Hass auf den jüdischen Staat eben um keine „Staatskritik“ sondern eher um eine Zwangsvorstellung handelt. So scheint Israel in dieser Vorstellung für ein besonderes Verhängnis zu stehen, die bloße staatliche Existenz angeblich alle möglichen emanzipatorischen Ziele zu verhindern: Vom Kampf gegen den Klimawandel bis zum Sturz des globalen Patriachat.
Angesichts dieser Obsession, die es nahelegt von einer Fortführung der Muster des moderenen Erlösungsantisemitismus „mit geopolitischen Mitteln“ auszugehen, ist es nicht verwunderlich, dass es sich als eine der drei „Faustregeln“ durchgesetzt hat bei der Bewertung von Aussagen zum Jüdischen Staat, auf sogenannte „Doppelte Standards“ zu achten, um herauszufinden, ob es sich bei der Aussage um Antisemitismus oder »legitime« Kritik staatlicher Politik handelt. Wird Israel also behandelt wie jeder andere Staat oder finden sich unausgesprochen Vorurteile oder unzulässig verengte Bewertungsstandards in der Betrachtung des jüdischen Staats? Daraus folgt zwangsläufig die Idee, dass Israel eben umgekehrt so zu verstehen und zu behandeln wäre, wie „ein Staat wie jeder andere“. Eine Idee, die nicht nur von den antizionistischen Vernichtungsfantasien, sondern auch von deutscher Politik („Staatsräson“) aber auch gelegentlich von linker- wie konservativer Überidentifikation mit dem jüdischen Staat konterkariert ist. Ganz so einfach scheint es also mit der „normalen“ Staatlichkeit Israels also auch nicht zu sein.
Ausgehend von der Annahme, dass der Antizionismus als wesentlicher Teil des modernen Antisemitismus – auch schon vor der israelischen Staatsgründung – verstanden werden muss, bemüht sich der Vortrag das Verhältnis zwischen einer an Emanzipation interessierten materialistische Staatskritik und den Aporien des zionistischen Projekts zu entwickeln.
Luise Henckel hat Kulturwissenschaften, Politikwissenschaft und Politische Theorie studiert und lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Sie hält Vorträge, gibt Workshops und publiziert zur frühen Kritischen Theorie, materialistischer Staatskritik und der Geschichte des (linken) Antisemitismus.
Publikationen:
Henckel, Luise und Kolja Huth (vsl. Frühjahr 2025): „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“. Antisemitismus und die Genese der Grünen 1973-1991, in: Marc Seul et. al. (Hg.): Politische Parteien und Antisemitismus. Opladen und Berlin: Barbara Budrich.
Henckel, Luise 2022: Zum Verhältnis der Kritischen Theorie zur Kritik der Politik, in: Jaro Ehlers et. al. (Hg.): Subjekt und Befreiung. Beiträge zur kritischen Theorie. Berlin: Verbrecher Verlag.)
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Ringvorlesung: "Nie wieder" ist jetzt? Antisemitismus seit dem 7. Oktober
Ringvorlesung mit 9 Gastvorträgen; WiSe 24/25
Termin: Dienstag 18:00 - 19:30, Hörsaal H112 (IBW-Gebäude), Humanwissenschaftliche Fakultät, Herbert-Lewin-Str. 2; 50931 Köln
Der antisemitische Terrorangriff auf Israel am 07. Oktober 2023 hat nicht nur einen kaum beschreibbaren Schock in der israelischen Gesellschaft ausgelöst und eine (re)traumatisierende Wirkung entfaltet. Auch für Jüdinnen:Juden weltweit und für jüdische Communities in Deutschland stellen der Angriff und dessen Folgen eine Zäsur dar: Während jüdische Einrichtungen wie Synagogen in Deutschland schon lange durch Polizei und private Sicherheitsdienste geschützt werden müssen, verweisen der drastische Anstieg antisemitischer Vorfälle und die derzeitige Situation auf eine antisemitische Bedrohungslage neuer Qualität.
„Nie wieder ist jetzt!“ lautete in den Wochen und Monaten nach dem 07. Oktober auch die Parole für Solidaritätsveranstaltungen mit Jüdinnen:Juden. Doch anders als bei der Anti-AfD Protestwelle Anfang 2024 und den Massenmobilisierungen zu Black Lives Matter im Jahre 2020 blieben Massendemonstrationen oder größere Kundgebungen gegen Antisemitismus und in Solidarität mit Israel aus. Vielmehr waren es erst die israelischen Reaktionen auf den Angriff, d.h. der Gaza-Krieg und seine schlimmen Folgen mit mittlerweile mehreren zehntausend palästinensischen Todesopfern, die bundesweit zu anti-israelischen Demonstrationen führten. Bei den Protesten wurde das Massaker des 07. Oktobers oftmals relativiert, teilweise gar zu einem antikolonialen Widerstandsakt stilisiert, es wurden antisemitische Parolen skandiert und eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Die mangelnde Solidarität und emotionale Kälte, mit denen Jüdinnen:Juden in Deutschland konfrontiert waren und sind, wird auch international beklagt. So schrieb die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz über einen Bruch mit vielen Strömungen der internationalen politischen Linken:
„Ein großer Teil der Linken - also die Seite, die seit zwei Jahrhunderten Gleichheit, Freiheit und Menschenwürde verteidigt hat - begrüßte entweder die Nachrichten von den Massakern (‚Widerstand gegen einen Besatzer‘), oder sie hat sie mit intellektuellen Vernebelungsstrategien abgetan. Die Linke hat terrorisierte Juden in der ganzen Welt und in Israel schamlos im Stich gelassen. (…)
Hätte die Linke uns in unserer Trauer nicht wenigstens für einen Moment zur Seite stehen können, so wie es viele Araber weltweit und in Israel getan haben?
Einmal mehr fühlen sich die Juden sehr allein.“ [1]
Der Anstieg des Antisemitismus und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungen in der bundesdeutschen postmigrantischen, postnationalsozialistischen und postkolonialen Gesellschaft erfordern tiefergehende Analysen: Welche gesellschaftlichen Dynamiken liegen der neuen Qualität des Antisemitismus zugrunde? In welchem Verhältnis stehen Rassismus und Antisemitismus, Zionismus und Kolonialismus sowie Antisemitismus und Antizionismus? Welche Bedeutung haben der 07. Oktober und dessen Folgen für jüdische Communities in Deutschland? Wie sehen effektive Konzepte zur Bekämpfung des Antisemitismus aus? Welche Potentiale und Grenzen haben Aufklärung und Bildung? Diesen und weiteren Fragen wollen wir uns in einer Ringvorlesung aus interdisziplinärer Perspektive widmen.
Diese Ringvorlesung wird gefördert aus Landesmitteln NRW bzw. aus dem Fonds zur Bekämpfung von Antisemitismus und findet in Kooperation mit dem Bündnis gegen Antisemitismus Köln und dem AStA der Universität zu Köln statt.
[1] Illouz, Eva (2023): Wir, die Linken? Nicht mehr. In: Süddeutsche Zeitung (27. Oktober 2023). Online unter: https://archive.ph/BGITg
Team: Prof. Dr. Gudrun Hentges, Felix Kirchhof, Jasamin Mirgolbabaei
Datum & Zeit:
Kategorie:
- Diskussion/Vortrag
Themen:
- Vortrag